Hunderte nehmen Pille zum Schutz vor HIV

Berlin (dpa) – Die tägliche Dosis gegen HIV kommt in kleinen Plastikbeutelchen von der Rolle. Das Medikament zur Vorbeugung, das sich Interessierte lange Zeit bei fragwürdigen Quellen im Ausland bestellten, ist seit Oktober in Deutschland erschwinglicher.

Der Preis sank durch eine Initiative von mehreren Hundert auf 50 Euro monatlich – bezahlen müssen ihn die Bezieher aus eigener Tasche. Inzwischen sind bereits mehr als 1000 Rezepte eingelöst worden, wie der HIV-Forscher Hendrik Streeck sagte. Er leitet eine Begleitstudie. Die große Frage dabei: Infizieren sich von nun an nachweislich weniger Menschen mit dem Virus? 

Diese Hoffnung verbinden Experten mit der 2016 in der EU zugelassenen Prä-Expositionsprophylaxe, kurz
PrEP. Denn in anderen Ländern wie Großbritannien wurde in dem Zusammenhang bereits ein Rückgang beobachtet. In Deutschland hingegen stagniert die Zahl der Neuinfektionen seit Jahren. Im Vorjahr steckten sich nach Berechnungen, die das Robert Koch-Institut (RKI) zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember veröffentlichte, 2500 Männer und 570 Frauen mit dem Immunschwäche-Virus an. Stark betroffen ist Berlin, wo Streeck nun auch viele PrEP-Verschreibungen zählt.

Die Vorbeugung mit Tabletten ist für Menschen mit besonders hohem Infektionsrisiko gedacht, nicht für Jedermann. Die Form der Anwendung ist recht neu, das Medikament an sich jedoch schon seit Jahren für die Therapie HIV-Infizierter zugelassen. Es enthält Wirkstoffe, die die Virusvermehrung in den Zellen hemmen und bietet bei regelmäßiger Einnahme einen hohen, aber keinen 100-prozentigen Schutz vor HIV.

Bei Menschen, die es nehmen wollen, muss sicher sein, dass sie HIV-negativ sind. Nimmt man es trotz bereits erfolgter Ansteckung, drohen Resistenzen. Eine Gefahr außerdem: Die Tabletten schützen nicht vor anderen sexuell übertragbaren Infektionen wie Syphilis. Darauf müssen Mediziner bei den Nutzern ebenso ein Auge haben wie auf mögliche Nebenwirkungen, etwa für die Niere. Noch ist aber nicht ganz klar, wie das wichtige Monitoring gesichert werden kann – denn auch dabei stehen die Zeichen auf Selberzahlen.

Der Weg zur PrEP führt bis jetzt nur über eigens geschulte Ärzte und 20- bis 30-minütige Beratungen in einer der
Apotheken, die sich an einem Pilotprojekt beteiligen – bislang rund 60 an der Zahl, wie der Initiator Erik Tenberken sagt. Beim Kauf bekommen Kunden neben Info-Material und Antworten auf Fragen rund um die korrekte Einnahme auch den Hinweis zur Studie von Hendrik Streek von der Universität Duisburg-Essen. Was weiß er dank Online-Fragebogen über die Nutzer?

Bislang seien es eher Menschen mit überdurchschnittlichem Einkommen, die sich die PrEP leisteten, sagt Streeck. Sie hätten sie teils schon aus dem Ausland bezogen, teils aber auch noch keine Erfahrung damit. Befragte hätten oft angegeben, schon vorher keine Kondome benutzt und bereits andere sexuell übertragbare Erkrankungen gehabt zu haben, sagt Streeck. Als Grund für den Kondom-Verzicht würden Erektionsstörungen genannt, aber auch der Wunsch des Partners. Die Motive für das Interesse an der PrEP seien gemischt. «Viele wollen zusätzlichen Schutz», sagt der Forscher. Spätestens in einem Jahr will er Bilanz ziehen.

Ein in Teilen anderes Bild zeichnet die Berliner Apothekerin Claudia Neuhaus. «Das sind sehr gewissenhafte Menschen», sagt sie über die PrEP-Nutzer. Sie gäben an, trotz der Medikamente Kondome zu benutzen. Gerade in Beziehungen, in denen ein Partner HIV-positiv ist, gehe es um zusätzliche Absicherung, falls zum Beispiel das Kondom reißt. Am Medikament verdienten Apotheken rund zehn Euro, sagt Neuhaus. Wegen der aufwendigen Beratung bleibe unter dem Strich nichts liegen. «Das ist Pionierarbeit. Wir möchten die Verbreitung von HIV minimieren.»

Die Zahlen müssten runter, gibt auch Erik Tenberken als Ziel an – es gelte jetzt, die Versorgung mit der PrEP zu stabilisieren. Der Kölner Apotheker hat eine Firma, in der Medikamente individuell für Patienten in kleine Beutelchen verpackt werden, vor allem um etwa in Altenheimen die Einnahme zu erleichtern. Einem solchen Blisterzentrum können Hersteller Rabatte gewähren, nicht aber Apotheken. Tenberken nutzte diesen Umweg und holte mehr Apotheken mit HIV-Expertise ins Boot, was Fachkreise begrüßten. Weitere Initiativen zögen womöglich nach, so Tenberken. Im Ruhrgebiet etwa gibt es einen weiteren Ansatz zur PrEP-Abgabe, allerdings mit noch überschaubaren Nutzerzahlen.

Das RKI schreibt in einem aktuellen Bericht: «Es wird interessant sein zu verfolgen, wie viele Menschen von dieser neuen Möglichkeit Gebrauch machen werden und ob die Zahl der PrEP-Nutzer so groß wird, dass sich dies auf die HIV-Neuinfektionszahlen auswirkt.»

Ein Blick nach Frankreich legt nahe, dass es wohl auch in Deutschland noch mehr Bedarf gäbe: Dort beugen Hendrik Streeck zufolge etwa 4500 Menschen mit der PrEP vor, allerdings könne sie dort auch von den Kassen übernommen werden. Eine Übernahme der Kosten auch hier fordert die Deutsche Aids-Hilfe schon länger. Und die Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter (Dagnä) rechnete vor, dass die Prophylaxe günstiger sei als die langfristige Behandlung HIV-Infizierter. Es geht um tausende Fälle, die demnach in den nächsten Jahren vermeidbar wären.

Fotocredits: Britta Pedersen

(dpa)
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